Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung und Pflege (Versorgungsverbesserungsgesetz – GPVG)
06.08.2020
Hinweise und Bewertung
Ziel des Referentenentwurfes ist es, die gesundheitliche und pflegerische Versorgung in einzelnen Bereichen zu verbessern. Der VDZI äußert sich an dieser Stelle zu Artikel 1 Nummer 3 des Referentenentwurfs. Dieser sieht deutlich erweiterte Möglichkeiten für Selektivverträge in nahezu allen Dimensionen vor, insbesondere hinsichtlich der Art der Versorgungen, der Kooperationsmöglichkeiten der Krankenkassen untereinander und mit anderen Sozialleistungsträgern und anderen Dritten, und nicht zuletzt der Öffnung hin zu allen Leistungserbringern und deren Leistungsportfolio.
Die mögliche Tragweite dieser Veränderungen führt zu einer anderen Qualität und Bedeutung der bisherigen Diskussion über Selektivverträge in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Aus der Sicht des VDZI sind mit diesen Änderungen so weitgehende Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet, dass damit unmittelbar Wechselwirkungen und Rückkopplungseffekte mit den bisherigen Ordnungs‐, Gestaltungs‐ und Sicherstellungs-strukturen in der sozialen gesetzlichen Krankenversicherung verbunden sein werden, die als problematisch angesehen werden müssen.
Insbesondere die mit einer Vielzahl von Selektivverträgen unvermeidlich ausgelöste Systemdynamik zur Veränderung der Aufgabenverteilung in der GKV, in der die einzelne Krankenkasse immer mehr die Funktion des Versorgungsmanagements übernimmt, muss als schleichend systemverändernd bewertet werden. Einige Aspekte hierzu werden daher in den nachfolgenden Ausführungen
thematisiert.
Insgesamt:
- Der VDZI sieht keinen versorgungspolitisch begründbaren Anlass für über die bisherige Fassung des § 140a Abs. 1 Satz 2 SGB V hinausgehende Regelungen.
- Die Zulässigkeit besonderer Versorgungsaufträge sollte nicht über die vertragsärztliche Versorgung hinaus erweitert werden. Den gesetzlichen Krankenkassen neue unkalkulierbare Wettbewerbsinstrumente zu ermöglichen, verbessert noch keine Versorgung.
- Der VDZI fordert vielmehr, die Zulässigkeit von Selektivverträgen nach § 140a SGB V weiterhin strikt zu regulieren.
- Dazu gehört auch die in § 140a SGB V verwendeten Begriffe und Bezeichnungen zur Rechtssicherheit präziser zu bestimmen, und insgesamt Selektivverträge nur in einem konkret definierten und kontrollierten Rahmen zuzulassen, die eine kollektivvertragliche Regelversorgung ergänzt, aber diese nicht strukturell unterwandert und systemverändernd aushöhlt.
Zu Artikel 1 Nummer 3 RefE – Erweiterte Möglichkeiten für Selektivverträge
Fehlende Klarheit der Begriffe und Bezeichnungen
Nach dem Verständnis des VDZI waren Selektivverträge für besondere Versorgungen nach § 140a bisher nur möglich, wenn die Besonderheit der Versorgung dadurch gekennzeichnet ist, dass sie mit ärztlicher Beteiligung interdisziplinär‐fachübergreifend konzipiert ist und unterschiedliche Leistungsprozesse unterschiedlicher Akteure aus institutionell unterschiedlichen Versorgungsbereichen abgestimmt und vertragseinheitlich koordiniert werden.
Nun sieht der Entwurf in Absatz 1 als modifizierte erweiterte Möglichkeit vor
„sowie besondere Versorgungsaufträge unter Beteiligung der dafür berechtigten Leistungserbringer oder deren Gemeinschaften.“
Gemäß der Begründung soll damit die Möglichkeit von Selektivverträgen künftig für alle anderen Leistungsbereiche bzw. für alle anderen Leistungserbringer, auch den nichtärztlichen Leistungserbringern eröffnet werden, „besondere Versorgungsformen in Abweichung der für sie geltenden Bestimmungen in der Regelversorgung mit den Krankenkassen zu vereinbaren.“
Die Bezeichnungen Versorgung, besondere Versorgung, Versorgungsauftrag, Versorgungsform, besondere Versorgungsform sind in ihrem Bedeutungsinhalt sehr unterschiedlich auslegbar und erheblich kontextabhängig. Diese Unbestimmtheit wird unzweifelhaft dazu führen, dass jedes Element eines Versorgungsprozesses, jedes beliebige Medizinprodukt, jede einzelne medizinische oder technische Leistung, jede weitere Dienstleistung als einzelner „Versorgungsbereich“ oder als einzelne „Versorgungsform“ definiert und interpretiert werden kann.
Alles im Versorgungsgeschehen kann auf diese Weise zur „Besonderheit“ werden, soweit die gesetzlichen Krankenkassen mit ihrer Organisationsmacht in Verbindung mit einzelnen Interessengruppen diese konstruieren wollen.
Notwendig zu fordern ist daher zur Herstellung von Rechts‐ und Handlungssicherheit aller Beteiligten vor allem eine materielle Klarheit der Begriffe und Bezeichnungen sowie eine klare Bestimmung der Zwecksetzung der „besonderen Versorgung“.
§ 140a RefE läuft sonst in die Gefahr, ein ideales Spiel‐ und Experimentierfeld zu sein, das gesetzlichen Krankenkassen in erster Linie neue Instrumente, d.h. Differenzierungsmöglichkeiten gibt, um untereinander den Wettbewerb um „gute“ Versicherte führen zu können oder für ein übermäßig an Wirtschaftlichkeitskriterien ausgerichtete Versorgungsexperiment, dessen Zielstellung primär auch ein Preiswettbewerb mit Blick auf die Regelversorgung ist. Beides trägt substantiell nichts zur Verbesserung des Versorgungszieles der ausreichenden, zweckmäßigen und notwendigen Gesundheitsversorgung der Bevölkerung bei.
Die Gesamtverantwortungsebene wird durch Selektivverträge ausgehöhlt
Der VDZI sieht keinen versorgungspolitischen Anlass, die bisherige Fassung des § 140a Abs. 1 Satz 2 SGB V zu verändern.
Denn eine Ausweitung selektiver Vertragsoptionen für eine unüberschaubare alternative „besondere“Versorgungslandschaft, wie sie mit § 140a RefE ermöglicht werden soll, erhöht direkt und indirekt die Fliehkräfte in der gemeinsamen Selbstverwaltung und führt zu einer weiteren Erosion der Gesamtverantwortung aller beteiligten Gruppen für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung, insbesondere der Spitzenverbände der Leistungserbringer auf Bundesebene.
Denn je vielfältiger und differenzierter die Begründungen und die Arten bei den sogenannten „Besonderen Versorgungen“ aus den Regelungen des § 140a RefE abgeleitet und umgesetzt werden, desto stärker werden die zentralen Organisations‐ und Steuerungssysteme für eine bedarfsorientierte, wohnortnahe und auf einem möglichst gleichwertigen Qualitätsniveau sichergestellte Versorgung für die gesetzlich Krankenversicherten ausgehöhlt.
Angesprochen und gefährdet ist damit das maßgebliche Ordnungsprinzip, die Zuweisung staatlicher Aufgaben, hier der Sicherstellung einer ausreichenden, zweckmäßigen und notwendigen Gesundheitsversorgung, auf hierfür spezialisierten Körperschaften des öffentlichen Rechts als mittelbare Staatsverwaltung. Und gefährdet wird damit auch das hierzu kompatible Steuerungsmodell der kollektivvertraglichen Entscheidungs‐, Durchsetzungs‐, und Kontrollstrukturen, die in Verbindung mit der Zuweisung des Sicherstellungsauftrages alle Beteiligten in eine öffentlich‐rechtliche Gesamtverantwortung einbinden.
Machtasymmetrie zugunsten der Krankenkassen steigt bei Selektivverträgen
Eine Ausweitung von Selektivverträgen kann auch dazu führen, das bestehende Leistungs‐ und Vertragsrecht in der kollektivvertraglichen Regelversorgung strategisch zu unterwandern.
Kollektivverträge mit Schiedsamtsregelungen balancieren für die ‐ bedarfsbedingt regional und kleinbetrieblichen ‐ ärztlichen und nichtärztlichen Anbieterstrukturen derzeit die ökonomischen Unterschiede und damit Chancen in der Durchsetzungsmacht gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen aus. Kollektivverträge senken zudem für alle Beteiligten die Vertragskosten.
Eine Vielzahl von Selektivverträgen mit einer Vielzahl von speziellen Leistungserbringern und deren Gruppen erhöht demgegenüber unverhältnismäßig die Informations‐ und Organisationsmacht der gesetzlichen Krankenkassen insgesamt und in jedem regionalen Versorgungsraum gegenüber den einzelnen im Wettbewerb stehenden Leistungsanbietern.
Für die mehrheitlich kleinbetrieblichen Leistungsanbieter im regionalen Versorgungsraum ist die geplante Öffnung zugunsten von mehr Selektivverträgen mit den Auswirkungen auf ihre praktischen Vertragsabschluss‐ und kontrollkosten mit unterschiedlichsten Krankenkassen in unterschiedlichsten Versorgungsmodellen ebenso unkalkulierbar, wie die jeweiligen Auswirkungen auf die regionalen Wettbewerbs‐ und Marktwirkungen.
Das Vertrauen in die Geltung der ökonomischen Rahmenbedingungen der Kollektivverträge ist für jede Investitionsentscheidung eines Leistungsanbieters von entscheidender Bedeutung. Davon wiederum ist in langfristiger Perspektive die Sicherung eines flächendeckenden Angebotes in Umfang und Qualität für die Regelversorgung wesentlich abhängig. Das Nebeneinander einer Vielzahl unterschiedlicher Selektivverträge und ihre Dynamik untergraben das Vertrauen und die Sicherheit.
Mit der damit verbundenen Schwächung der Position der bisherigen Kollektivvertragspartner zur Steuerung des Gesamtsystems wirken Selektivverträge mindestens indirekt auf die zukünftigen Rahmenbedingungen der Gesamtversorgung. Die gemeinsame Selbstverwaltung mit den Instrumenten zu einem fairen Interessenausgleich, das Konzept des Sicherstellungsauftrags, die gemeinsame öffentlich‐rechtliche Verantwortung zur Erfüllung einer staatlichen Aufgabe erodieren zunehmend.
Homogene Leistungs‐ und Versorgungsqualität zerfasert in Selektivvertragsstrukturen
Ziel der sozialen Krankenversicherung ist eine ausreichende, zweckmäßige und notwendige Gesundheitsversorgung, die homogen, d.h. in vergleichbarem Umfang und Qualität flächendeckend der Bevölkerung zur Verfügung stehen soll. Die zukünftig durch die Öffnungen des § 140 a RefE mögliche sachliche und räumliche Vielfalt unterschiedlicher Versorgungslandschaften widersprechen diesem Ziel und dem Grundsatz gleichwertiger Lebensverhältnisse, hier Gesundheitsversorgung.
Gerade vor dem Hintergrund der Erfahrungen der letzten Jahre ist festzustellen, dass es beispielsweise in der Heil‐ und Hilfsmittelversorgung bei Einzelverträgen und Ausschreibungen zu einem Verlust von nachhaltiger Lieferfähigkeit und regionaler Verfügbarkeit, zu einer Verschlechterung der Qualität und Angebotsvielfalt gekommen ist. Es waren daher genau diese fehlgeleiteten Versuche der Krankenkassen, ein selbstständiges „Einkaufs‐ und Versorgungsmanagement“ zu betreiben, die den Gesetzgeber hier mit dem HHVG veranlasst haben, die kollektivvertraglichen Strukturen wieder entscheidend zu stärken.
Vermischung von Leistungen und Versorgungen der GKV mit Sozialleistungsträgern, PKV und anderer Dritter problematisch
§ 140a Abs. 3 SGB V soll gemeinsame Versorgungen mit sonstigen Sozialleistungsträgern und der PKV ermöglichen. Der VDZI empfiehlt diese Regelung zu streichen. Mit den hierfür notwendigen Vertragsgestaltungen würden bisher strikt getrennte leistungs‐ und gebührenrechtliche Systeme und Teilnahmevoraussetzungen der Leistungserbringer vermischt werden, wofür zum gegenwärtigen Zeitpunkt die erforderlichen und grundlegenden Voraussetzungen fehlen. Damit bleibt für die Leistungserbringer mit jedem Einzelvertrag unklar, ob und welche rechtlichen Regelungen etwa des SGB V jeweils noch gelten werden und welche direkten und indirekten Übertragungswirkungen diese vertraglichen Entwicklungen auf das Gesamtsystem der GKV und dessen Transparenz und Steuerbarkeit entfalten werden.
Die Stellungnahme des VDZI zum GPVG finden Sie hier zum Download.